Die Brutsaison 2019 war unser erstes Jahr, in dem wir unseren Nistkasten auf dem Balkon aufgestellt hatten. Wir waren also gar nicht sicher, ob der Nistkasten, oder der Standort auf dem Balkon überhaupt Vögel anziehen würde. Umso glücklicher waren wir, als schon in der ersten Nacht, in der wir die Kamera angeschlossen hatten, eine Blaumeise übernachtete.
Sie hatte ihren Kopf unter ihren linken Flügel geschoben und sich zu einem kleinen Flauscheball aufgeplustert.

In den darauffolgenden Tagen kam die Blaumeise immer kurz nach Sonnenuntergang, übernachtete im Nistkasten und flog kurz vor Sonnenaufgang wieder davon.
Tagsüber gab es nur selten Besuche, dafür dann aber meist in Begleitung eines Partners. Männchen und Weibchen konnten wir leider nicht unterscheiden und so wussten wir auch nicht, wer von beiden bei uns übernachtete.
Ab Ende März wurden die Aktivitäten am Kasten aber deutlich erhöht und die beiden Blaumeisen begannen damit, Nistmaterial in den Kasten zu bringen. Bevorzugt wurden kleine, dünne Äste, Moose und Federn hereingetragen.
Das Weibchen bildete nach und nach eine kleine Nistkuhle und auf einmal war es da: Das erste Ei. Die Freude bei uns war natürlich groß. Und bei dem einen Ei sollte es nicht bleiben: In den kommenden zwölf Tagen legte das fleißige Weibchen jeden Tag noch ein Ei, so dass wir am Ende 13 Eier zählten.

Auch während dieser Phase, war das Meisen-Paar nur selten im Nistkasten. Erst nachdem alle Eier gelegt waren begann das Weibchen mit der Brut. Mit diesem Verhalten wollen die Meisen erreichen, dass alle Küken gleichzeitig schlüpfen und zu Kräften kommen. Ansonsten würde ein Küken, das zwei Wochen vor den anderen schlüpft wahrscheinlich die ganze Nahrung für sich alleine beanspruchen.
Während der zweiwöchigen Brutphase saß das Weibchen fast unentwegt auf den dreizehn Eier. Jeden Tag versuchten wir, einen kurzen Blick auf die Eier zu erhaschen, wenn sie sich mal aufstellte oder wenn sie selten das Nest verließ. Das Männchen versorgte sie in der Zeit liebevoll mit Raupen und anderem kleinen Getier.
Gegen Ende April war es dann endlich soweit: Das erste Küken schlüpfte aus seinem Ei. Es war noch so winzig, dass wir es anfangs kaum erkannten. Innerhalb eines Tages schlüpften dann auch alle seine Geschwister. Naja, fast alle: Aus dem dreizehten Ei schlüpfte nichts.

Von nun an bestand der Alltag für Männchen und Weibchen nur noch daraus, für die zwölf hungrigen Schnäbel Futter herbei- und die Kotbeutel, die die Küken ab und zu aus ihrem Hinterleibern drückten, webzubringen.
Waren die Augen der Küken anfangs noch verschlossen, öffneten sie sich die Augen ca. am zehnten Tag. Der Hunger kannte keine Grenzen mehr und im Minutentakt wurde der Nistkasten von den Blaumeiseneltern mit Nahrung im Schnabel angeflogen.

Die Küken wurden auch immer größer und so sehr sich das Weibchen bemühte, ihre Nachkommen nachts vor den niedrigeren Temperaturen zu schützen, mussten nach und nach die größten Küken neben und nicht mehr unter ihr Platz nehmen.

Am dreizehnten Tag wurden die ersten kleinen Flügelschläge im Nistkasten geprobt. Natürlich zum Leidwesen der gerade daneben sitzenden Geschwister, die dann mal einen Flügel, Schnabel oder Fuß im Gesicht hatten.
Am 19. Tag war es dann endlich soweit. Mama und Papa Blaumeise saßen irgendwo in den umliegenden Bäumen und versuchten ihre nun schon stattlichen Nachkommen durch Rufe aus dem Nest zu locken. Ab und zu flogen sie auch mit einer kleinen Raupe im Schnabel zum Nistkasten, die sie dann am Einflugloch präsentierten.
Und es half: Nach und nach flatterten die Blaumeisen zunächst von innen hoch zum Einflugloch, schauten meist ein paar Minuten heraus, nahmen allen Mut zusammen und taten dann ein Satz hinaus und flatterten davon.
Alle bis auf einen. Wir nannten ihn den voreiligen August. Er war deutlich kleiner als seine elf Geschwister und wirkte noch nicht so, als ob er überhaupt fliegen könnte. Aber Vater und Mutter hatten kein Erbarmen und fütterten ihn auch nicht mehr. So musste er also auf Gedeih und Verderb aus dem Nistkasten heraus.
Wir harrten gespannt hinter der Balkontür aus, als er im Einflugloch erschien. So richtig entschlossen wirkte er aber nicht, spürte er anscheinend selber, dass er eigentlich noch nicht soweit war. Eins nach dem anderen dachte er sich und klammerte sich nun von außen an das Einflugloch. Dort verließen ihn aber die Kräfte und er rutschte ab. Allerdings nur wenige Zentimeter bis zu einer Stange, mit der wir die Klappe des Nistkasten verschlossen hatten.
Leider ging es auch von dort noch etwas weiter runter, bis er schließlich auf den Fliesen des Balkons saß. Zwischendurch kamen noch ab und zu Vater oder Mutter Blaumeise vorbei und piepten besorgt auf dem Geländer. Aber auch sie konnten dem voreiligen August nicht helfen.
Wir überlegten, was wir tun konnten, denn es war klar, dass er nicht aus eigener Kraft auf das Geländer flattern konnte. Und so nahmen wir ein Kehrblech und versuchten August vorsichtig darauf zu schieben. Er war davon sichtlich nicht sehr angetan und schaute grimmig und wählte die Taktik ‚Nasser Sack‘. Irgendwann hatten wir ihn aber mit Hilfe des Kehrblechs auf den Nistkasten bugsiert.

August flatterte etwas unbeholfen umher und stürzte direkt ab. Wir dachten schon, er wär aus dem dritten Stock nach unten gefallen, aber er saß etwas mitgenommen am Rand der kleinen Regenrinne, die von außen um unseren Balkon läuft.
Nachdem er noch einige Minuten Kräfte gesammelt hatte, nahm er all seinen Mut zusammen und flog in Richtung der nahestehenden Birke. Eigentlich war eher ein Gleiten bis halbwegs kontrolliertes Vorwärtsfallen, aber schließlich schaffte er es auf den untersten Ast der Birke.
Alle zwölf Küken hatten nun also das Nest verlassen. Wir waren glücklich, aber auch etwas traurig, weil wir uns an das wuselige Treiben in den letzten Wochen so sehr gewöhnt hatten.
Zurück blieb jetzt ein leeres Nest und die Hoffnung, dass wir im kommenden Jahr wieder ein Brutpaar bei uns begrüßen dürfen würden.
